/// Synapsen /// Sticken ///


von Verena Kuni

erschienen in "Theresa Frölich – A Semi-Spiritual Thing" hrsg. von Hildegund Amanshauser, Berlin 2008

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001 /// Sticken


Sticken: Eine sittsame Tätigkeit. Mindestens gemäß der Tradition. Jener, die vorzugsweise an Mädchen und Frauen denken lässt, die sich still und brav über ihre Handarbeit beugen. Muster produzieren und reproduzieren. Stich um Stich.


Anders als Nähen, Häkeln oder Stricken folgt Sticken allerdings nicht so offensichtlich einem Primat der Nützlichkeit. Näher steht es dem Dekor. Ein Handwerk, das zu Ornament und Arabeske neigt.


Sich stets an der Grenze zum Überschüssigen und Überflüssigen zu bewegen: Genau dies kann seine Freiheit sein. Aber auch sein Zwang.


Auf der einen Seite: Die Lust daran, sich ein- und fortzuschreiben. An der Markierung, der Einschreibung, der Inbesitznahme von Terrain. Auch: Am Schmuck. An Narration und Abstraktion. 


Auf der anderen Seite: Die Obsession, die droht, in Neurose zu kippen. Beschäftigungstherapie wider den Horror Vacui. Sticheleien und Stiche. Verknüpfungen, die zu Verknotungen werden. Beziehungswahn. Fetisch, Strang und Strangulation.


Mag wohl sein, dass die Muster dazu da sind, beide – Freiheit wie Zwang – in ihre Schranken zu weisen. Maß und Mäßigung zu üben. Ordnung zu wahren innerhalb einer gegebenen Struktur. Nicht produzieren und reproduzieren also, sondern produzieren, um zu reproduzieren. Das verspricht Sicherheit, suggeriert Stabilität. 


Stich um Stich: Wiederholung wiederholen. Nur: Wirklich weiter geht es auf diese Weise nicht.



002 /// Struktur


Der Grund: Ein Gewebe. Ein Koordinatensystem.


Zunächst in der Fläche: Linien, die einander im rechten Winkel kreuzen. Fadenkreuz, Kette und Schuss. Selbst bereits Muster: Mithin ideal, um diesem ein weiteres einzutragen. Stich um Stich. Es weiterzudenken in den Raum, bedarf lediglich eines Lots. Rotiert um den rechten Winkel, wird ein Würfel aus dem Quadrat, anstelle von Linien schneiden sich Ebenen. Gitter in der dritten Dimension. 


Die Matrix: Eine Möglichkeit. Sie zu füllen, Stich um Stich, schafft eine zweite Welt. Doch wie? Das ist die Frage.


Auf der einen Seite: Das Muster. Wiederholung wiederholen, das hieße hier: Spiegelung, Verschiebung, Projektion. Eine zweite Welt, die ein Abbild der ersten ist. Eigentlich mehr als nur eine virtuelle Realität – je nachdem, wie sie wahrgenommen wird. 


Auf der anderen Seite: Die Überschreitung. Das vorgegebene Muster und damit die Tradition zu durchbrechen, bedeutet noch nicht notwendig eine Zurückweisung der Struktur. Aber den Versuch, sich anders in ihr zu bewegen. Zu zeigen, dass es zahlreiche Optionen gibt, die Punkte mit-einander zu verbinden. Denn ein jeder steht in diesem Koordinatensystem. Nur diejenigen, die markiert werden, fallen in den Blick und können Flächen oder Körper formen.


Die Matrix Stich um Stich zu füllen, bedeutet also: Das Sichtbarmachen und damit die Schöpfung einer Welt. Einer Imagination Realität zu verschaffen.



003 /// Suture


Die Naht, deren Stiche einen Riss schließen: Eine Handarbeit, die zerteilte Körper wieder zusammenfügt. Und idealer Weise wieder zusammenwachsen lässt. 


Anders als so mancher andere Spalt: Etwa jener Riss, der durchs Subjekt geht: Eine Leerstelle, in der es sich im Prozess der Identitätsfindung zu verorten gezwungen ist und die es schließen muss. Die Verbindung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen.


Dann die Basislektion in Anatomie: Suture – jene Naht, welche die Schädelknochen miteinander verbindet und die zunächst noch aus weichem Bindegewebe besteht. Ein potentieller Riss auch sie. Wie schließlich das, was im Inneren unter dem Knochendach liegt. Die große Spalte, die das Hirn in zwei Hemisphären teilt: Ein weiterer Riss. Zwei Welten, die allerdings mehr miteinander verbindet als trennt.


Auf der einen, auf der anderen Seite: Ein weiteres Mal. Nur, dass hier keine Wahl besteht. Oder besser gesagt: Umso deutlicher wird, dass es die Relationen sind, die entscheiden.



004 /// Synapsen


Es kommt also ganz darauf an, was zwischen zwei Punkten geschieht. Welche Verbindungen hergestellt werden: Dies bestimmt nicht nur das Bild der Welt, sondern letztlich auch diese selbst. Jede Imagination ist zugleich eine Realität.


Es geht mithin um mehr als allein ums Ornament. Das Überschüssige ist nicht überflüssig, sondern erweist sich als essentiell.


Entsprechend die Struktur: Stabil und dynamisch zugleich. Ihre Ordnung verlangt nicht notwendig Stillstand. Ganz im Gegenteil. Die Muster, Wiederholung wiederholend, sind nur eine Möglichkeit. Gewohnheit, Geschichte: So gern beide versuchen, sich in die Zukunft fortzuschreiben – wer würde bezweifeln, dass diese von Veränderung lebt?


Weiter bringen die Stiche, die zusammenführen, was zuvor nicht miteinander verbunden war. Die neue, andere Linien ziehen. Figuren und Körper sichtbar werden lassen, an die bis dahin nicht gedacht worden ist. Wenigstens nicht an dieser Stelle.


An diesem Punkt verlässt die Kunst das Musterbuch der Handarbeit ebenso wie die Basislektion der Anatomie. Was ihr Gefüge begreifen lässt, ist: Dass es der Freiheit bedarf, den Raum als Möglichkeit zu begreifen.


Sicher: Jenseits der Vorgaben zu operieren ist riskant. Die Chemie der Lust und die Chemie der Obsession sind einander eng verwandt; Freiheit und Zwang in diesem Sinne weniger Gegensätze als das Dies- und Jenseits eines Umschlagsmoments.


Und doch braucht es genau dies: Das Risiko einzugehen. Die Dynamiken von Erregung und Erschöpfung, Weiterleitung und Widerstand zu erkunden. Vor allem aber: Stich um Stich eigene Verknüpfungen zu schaffen. Freizügig Fäden zu spannen: Um zu zeigen, dass die Punkte nicht allein Koordinaten fixierter Körper in einem bereits definierten Feld sind. Sondern auch als Synapsen funktionieren können. Zwischen Bildern, zwischen Welten.


Mag wohl sein, dass diese Art zu sticken kaum an jene sittsame Tätigkeit erinnert, deren Einschreibung durch die Tradition die Vorstellung dominiert. Aber darum geht es ja: Sie als Hand- und Denkarbeit zu verstehen. Und zu praktizieren. Das ist die Kunst.